Bankgeschäft in Frauenhand

Von 1950 bis 1970 war Marie Brügger als Verwalterin das Gesicht der Raiffeisenbank Wünnewil: eine Pionierin in einer Männerdomäne. Und eine resolute Frau, die durchsetzte, dass ab 1960 am Sonntag in der Darlehenskasse nur noch das Geld arbeitete.

Was Marie Brügger wohl durch den Kopf geht? Es ist der 12. März 1950, Sonntagnachmittag. Die Darlehenskasse Wünnewil hat zu ihrer jährlichen Generalversammlung geladen. Die Genossenschafter, der Vorstand und der Aufsichtsrat sitzen in der Pfarreiwirtschaft St. Jakob. 116 Männer. Die einzige Frau im Saal ist Marie Brügger, 38 Jahre alt, ledig. Seit einem Jahr führt sie als provisorische Kassierin die Geschäfte der Bank. Das Amt hat sie von ihrem Vater Dominik Brügger übernommen. Der pensionierte Lehrer und langjährige Verwalter der Darlehenskasse ist ziemlich genau ein Jahr zuvor überraschend verstorben.

Jetzt präsentiert Marie Brügger ihren ersten Geschäftsbericht – und überzeugt mit «ihrem klaren Einblick ins verflossene Geschäftsjahr» die versammelten Raiffeisenmänner. «Jedermann stellt fest, dass Frl. Brügger im Kassawesen kein Neuling ist und mit Zahlen zu jonglieren versteht», heisst es im Protokoll. Die versammelten Männer wählen darum «Fräulein» Brügger – wie die unverheiratete Frau nach damaliger Sitte genannt wird – einstimmig zur neuen Kassierin der Darlehenskasse Wünnewil, «da sie in jeder Beziehung wie Pünktlichkeit, Treue u. Freundlichkeit ihrem verstorbenen Vater in keiner Weise nachstehe», wie das Protokoll weiter festhält.

Gruppenbild mit Dame: Marie Brügger und der Vorstand und Aufsichtsrat der Raiffeisenkasse Wünnewil. Hintere Reihe von links: ?, August Schafer, Canisius Riedo, Arnold Tröller, Max Fasel. Vorne v.l.: ?, Emil Gobet, Dominik Perler. Nicht zuordnen konnte ich Leonhard Boschung und Gottfried Wolf – wer kann helfen? (Undatierte Aufnahme, vermutlich 1954/55, Archiv der Raiffeisenbank Sensetal)

Eine Pionierin in einer Männerdomäne

Mit der Wahl schreiben die Wünnewiler Raiffeisenmänner Geschichte. Dass 1950 einer Frau offiziell die Verwaltung einer Bank übertragen wird, ist aussergewöhnlich. Die Raiffeisenbanken waren damals eine reine Männersache. Das Stimmrecht erhielten die Schweizer Frauen sogar erst 21 Jahre nach Brüggers Wahl. Das macht Marie Brügger zu einer Pionierin in einer Männerdomäne.

Doch wie kam es dazu?

Auch die Darlehenskasse von Wünnewil (sie benennt sich 1974 in Raiffeisenkasse um) ist lange eine reiner Männerklub. 33 Männer aus dem Dorf versammeln sich am 23. Juli 1905 und beschliessen, in Wünnewil eine Darlehenskasse nach dem Modell Raiffeisen zu gründen (mehr dazu im Kasten am Schluss dieses Textes). Vorstand, Aufsichtsrat, Kassier, Genossenschafter – während Jahrzehnten alles nur Männer.

Das ändert sich 44 Jahre später mit einem Todesfall. Am 21. März 1949 stirbt Dominik Brügger mit 64 Jahren. Am Tag zuvor hat er an der Gemeindeversammlung einen Schlaganfall erlitten. Brügger war in der Gemeinde stark engagiert. Von 1905 bis 1945 unterrichtete er als Lehrer im Dorf. Daneben leitete er lange den Cäcilienchor, spielte bis zu seinem Tod die Orgel in der Kirche, besorgte zeitweise das Zivilstandsamt der Gemeinde, war Pfarreipräsident und seit 1925 auch Kassier der Raiffeisenbank Wünnewil. Wie vielseitig er engagiert war, zeigen die vielen Todesanzeigen und sein Nachruf in den «Freiburger Nachrichten».

Die «Villa Brügger» – das Privathaus von Dominik Brügger und seiner Familie – beheimatete von 1936 bis 1972 die Raiffeisenkasse Wünnewil. (Aus der Festschrift 75 Jahre Raiffeisenkasse Wünnewil)

Die Bankgeschäfte erledigte Brügger zuerst im Schlössli-Schulhaus, wo er mit seiner Familie wohnte. Ab 1936 brachte er das Kassabüro – wie das damals in der Raiffeisenwelt üblich war – in seinem Privathaus unter, der «Villa Brügger», die er an der Dorfstrasse hatte bauen lassen (heute ist dort die Arztpraxis untergebracht). Das Kassabüro und das Zivilstandsamt befand sich in einem separaten Zimmer im Erdgeschoss des Hauses (siehe untenstehenden Plan). Die Öffnungszeiten richteten sich nach der Freizeit des Lehrers. Seine Frau Josephine Brügger-Käser amtet als seine Stellvertreterin, wie es in ihrem Nachruf in den «Freiburger Nachrichten» vom 15. Dezember 1973 heisst.

«Der Plan für das Büreau der Darlehenskasse und Zivilstandsamt hatte Schwierigkeit. Ein zweiter Eingang sollte vermieden werden und doch war man der Auffassung, dass der Raum für die Büreau-Anlagen von der eigentlichen Wohnung etwas abgetrennt werden sollte. Nach viel Kopfzerbrechen ist die Anlage sehr geglückt.

Aus dem Windfang eintretend finden die Leute einen Vorraum (1), der von der Wohnung abgeschlossen ist. Durch eine eigene Tür gelangen die Leute in den Schalterraum (2) des hellen Büreaus (4). Die separate Tür zur Wohnung erweist sich als sehr praktisch. Der Schalterkorpus (3) ist aus Holz.»

Auszug aus dem Bautagebuch von Dominik Brügger (Privatbesitz Familie Brügger)

Monatslohn von 450 Franken

Mit Brüggers Tod steht die Raiffeisenbank von heute auf morgen ohne Kassier da. Die Geschäfte müssen aber weitergehen. Was nun? Dass kurzerhand Marie Brügger die Bankverwaltung übernimmt, ist kein Zufall. Marie «Miggi» Brügger wächst in Wünnewil als Zweitälteste mit vier Brüdern (wovon einer mit 29 Jahren stirbt) und einer Pflegeschwester auf. Sie besucht die Sekundarschule in der Guglera in Giffers. Nach dem Schulabschluss fällt ihr die Aufgabe zu, sich um ihre augenkranke Mutter Josephine Brügger-Käser und den Haushalt zu kümmern. Schon früh hilft die ledige junge Frau auch ihrem viel beschäftigten Vater beim Bankgeschäft, vertritt ihn, wenn er nicht da ist, und lernt so das Handwerk. Marie Brügger ist wohl schon vor dem Tode ihres Vaters die eigentliche Verwalterin der Raiffeisenbank Wünnewil. Im Vorstandsprotokoll vom 19. August 1969, in dem es um den Rücktritt Brüggers geht, heisst es: «Sie hat während 40 Jahren unserem Kassainstitut in vorzüglicher Weise gedient (…)» Das würde bedeuten, dass sie ab 1929 in der Bankverwaltung mithilft.

Das ist für die Raiffeisenbank ein Glücksfall: Sie gewinnt ohne mühsames Suchen eine neue Kassierin, die das Geschäft nahtlos weiterführt und sich auch mit den Verhältnissen im Dorf auskennt. Für Marie Brügger bedeutet die offizielle Wahl als Kassierin, dass sie ihren Lebensunterhalt als ledige Frau finanzieren und sich weiterhin um ihre Mutter kümmern kann. An der GV von 1950 stellt ein Mitglied den Antrag, da der Umsatz der Kasse «ganz beträchtlich gestiegen ist», sei an Fräulein Brügger ein «dementsprechendes Gehalt» auszubezahlen, «da bei ihr das Kassieramt nicht als Nebenamt in Betracht falle». Ihr Gehalt beträgt anfänglich 450 Franken im Monat. In einem Brief an die Verwaltung bittet Marie Brügger, den Monatslohn auf 500 Franken zu erhöhen mit der Begründung «dass das Kassawesen ihr Hauptberuf sei und dass die Verantwortung sehr gross sei», wie es im Vorstandprotokoll vom 24. März 1950 heisst. Darauf geht der Vorstand nicht ein, gewährt Marie Brügger aber zusätzlich 1200 Franken pro Jahr als «Bureauentschädigung» für Miete und Heizung.

Marie Brügger posiert für den Fotografen in Pantoffeln am Stehpult. An der Wand hängt eine Fotografie ihres verstorbenen Vaters Dominik Brügger, der von 1925 bis 1949 Kassier der Raiffeisenbank war. (Foto von Maries Bruder Oswald Brügger, undatiert, Archiv Raiffeisenbank Sensetal)

«Für was bruuch schus

20 Jahre lang, bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1970, führt Marie Brügger die Raiffeisenbank Wünnewil als «Einfraubetrieb». Sie nimmt Spargelder entgegen, zählt die Batzen der Kinder, die ihre Sparkässeli vorbeibringen, befasst sich mit Kreditgesuchen und zahlt die Darlehen aus, wenn der Vorstand sie genehmigt hat. Sie führt die Bücher und legt an den Generalversammlungen – damals noch reine Männerveranstaltungen – Rechenschaft über das Geschäftsergebnis ab.

Die Bankgeschäfte erledigt sie in der Kassastube in der «Villa Brügger». Ein Sekretär, ein Stehpult mit Telefon, dicke, schwarze Kassenbücher, Schreibwerkzeug – die Einrichtung der Bank ist damals bescheiden.

In Wünnewil ist Marie Brügger – im Dorf als «s Kassa-Marie» bekannt – als strenge Verwalterin in Erinnerung geblieben, die mit Argusaugen darüber wachte, dass nicht zu viel Geld die Bank verliess. Ein Wünnewiler erinnert sich, wie er als kleiner Bub seinen Vater zur «Kassa» begleitete, der 500 Franken von seinem Sparbuch abheben wollte. Die erste Frage von Marie Brügger sei gewesen: «Für was bruuch schus?»

Die strenge Art sei aber nicht ein Charakterzug Marie Brüggers gewesen, erinnert sich ihr Neffe und Göttibub Daniel Brügger. Als loyale Angestellte der Bank habe sie sich halt einfach an die Vorgaben des Bankvorstands halten müssen. So sei ihr als Gesicht der Raiffeisenbank auch die undankbare Aufgabe zugefallen, Bankkunden eine Absage zu erteilen, wenn der Vorstand ihr Kreditgesuch nicht genehmigt hatte.

«Man möge an Sonntagen den Verkehr mit der Kasse ruhen lassen»

Reguläre Öffnungszeiten kennt die Bank damals nicht, von Marie Brügger wird erwartet, an allen Tagen verfügbar zu sein – auch am Sonntag. Es ist in den 1950ern noch üblich, dass die Wünnewiler nach der heiligen Messe ihre Geldangelegenheiten in der Raiffeisenkasse erledigen. Diese Sonntagsarbeit ist Marie Brügger ein Dorn im Auge. Der Sonntag ist ihr wichtig «als Tag des Herrn», wie es in ihrem Nachruf heisst. Und als Tag des Gesangs. Über 50 Jahre lang singt sie im Cäcilienchor Wünnewil, den ihr Vater viele Jahre dirigiert hat. Für ihr langjähriges Engagement wird sie mit der päpstlichen Verdienstmedaille «Bene merenti» geehrt.

Über 50 Jahre lang singt Marie Brügger (ganz links) im Cäcilienchor Wünnewil, den ihr Vater (rechts) dirigiert. (Undatierte Aufnahme aus den 1940er-Jahren, Privatbesitz Daniel Brügger)

Schon früh kämpft Marie Brügger darum, am Sonntag nicht arbeiten zu müssen. An der Generalversammlung von 1953 schlägt ein Mitglied auf Wunsch Brüggers vor, an Sonntagnachmittagen und Sonntagabenden den Besuch der Kasse zu unterlassen. Ausserdem sei Marie Brügger auch unter der Woche ein freier Halbtag zu gewähren, am besten am Mittwochnachmittag. Die Kasse an einem halben Tag geschlossen? Das könnte der Bank schaden, warnt ein anderer Genossenschafter und schlägt deshalb vor, den freien Mittwochmachmittag vorerst ein Jahr lang versuchsweise auszuprobieren. Ein Jahr später, an der Generalversammlung vom 14. Februar 1954 geben die Mitglieder Marie Brügger definitiv am Mittwochnachmittag frei.

Bis dann auch der Sonntag für Marie Brügger arbeitsfrei wird, dauert es aber noch weitere sechs Jahre. Erst an der Generalversammlung vom 21. Februar 1960 wird ihrem Wunsch entsprochen, «man möge in Zukunft an den Sonntagen den Verkehr mit der Kasse meiden und als Ruhetag gelten lassen». Fortan bleibt die Wünnewiler Raiffeisenbank am Sonntag geschlossen, arbeiten muss am Tag des Herrn künftig nur noch das Geld.

Der «Raiffeisenvater» Friedrich Wilhelm Raiffeisen schaut von der Wand herab zu, wie Marie Brügger mit der Rechenmaschine die Bücher führt. (Foto von Maries Bruder Oswald Brügger, undatiert, Archiv Raiffeisenbank Sensetal)

Aus der Stube ins Bankgebäude

Marie Brügger geht Ende Juni 1970 auf eigenen Wunsch in Pension. Der wachsende Aufgabenberg in der Bank und die Pflege der betagten Mutter (sie stirbt am 19. November 1973) wird ihr zu viel, wie aus den Protokollen hervorgeht. Sie erhält eine monatliche Rente von 150 Franken und zieht in eine bankeigene Wohnung im Postgebäude, dafür zahlt sie einen reduzierten Mietpreis. Ihren Nachfolger Dionys Marchon arbeitet Marie Brügger selber ein – er bleibt bis 1992 Verwalter.

Mit Brüggers Pensionierung geht eine Ära in der Geschichte der Raiffeisenbank Wünnewil zu Ende. Die Zeit der «Stubenkasse» ist vorbei. 1972 bezieht die Raiffeisenbank am heutigen Standort an der Dorfstrasse ein eigenes Gebäude, das am 29. Oktober 1972 eingeweiht wird. Fortan hat die Bank klare Öffnungzeiten. 1976 stellt die Bank die erste vollamtliche Mitarbeiterin an, drei Jahre später hält der erste Computer Einzug.

Marie Brügger stirbt am 24. September 2000 im Pflegeheim des Spitals Tafers. In Erinnerung bleibt sie als Pionierin in einer Männerwelt und als strenge Verwalterin der «Kassa».

Daniel Brügger, Neffe und Göttibub von Marie Brügger erinnert sich an «Z’Tante Miggi» 

Meine frühesten Erinnerungen an Tante Miggi oder «z’Tanti» gehen in die Zeit zurück, als ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in der «Villa Brügger» an der Dorfstrasse im gleichen Haushalt zusammen mit Tante Miggi und meiner Grossmutter die ersten fünf Lebensjahre verbrachte. Z’Tanti arbeitete tagsüber im Kassabüro und pflegte unsere Grossmutter, ab und zu gewährte sie uns Neffen und Nichten einen Blick in ihr geräumiges Büro im Erdgeschoss. Sie sprach selten über ihre Arbeit, als Kinder bekamen wir mit, dass sie viele Zahlen und Bemerkungen mit Tinte in grosse schwarze Bücher schrieb und diese in beigefarbenen Metallschränken ablegte. Gelegentlich liess sie uns Kleingeld nachzählen und damit Münz-Türme bauen. Dabei gab es von ihr schon mal den Hinweis, wie wichtig auch kleine Geldbeträge und ein sparsamer Umgang mit Geld sind. Allen Neffen und Nichten schenkte sie schon in den ersten Lebensjahren ein Kässeli aus Blech, hier sollten wir unsere Ersparnisse sammeln und am Ende des Jahres auf unser Konto gutschreiben lassen.

Z’Tante Miggi hatte Freude an ihrer Arbeit und war von der «Idee Raiffeisen» überzeugt. Der Besuch der Revisoren aus St. Gallen war jeweils eine besondere Herausforderung. Einer dieser Revisoren war Alois Meienberg. Er nahm oft seinen Sohn Niklaus mit, wenn er nach Wünnewil kam. Miggi bekochte die beiden mehrmals über Mittag. Sie erzählte mir dies Jahre später mit besonderem Stolz, da Niklaus Meienberg während vielen Jahren als kritischer, investigativer Journalist, Historiker und Schriftsteller arbeitete und sich einen Namen machte.

Gelegentlich musste Miggi als Kassa-Verwalterin Kunden und Kundinnen auch unpopuläre Entscheide des Verwaltungsrates mitteilen, z.B. wenn ein Kredit nicht bewilligt wurde. Dafür wurde sie - meist hinter vorgehaltener Hand - im Dorf kritisiert, was sie beschäftigt hat. Miggi war bis zu ihrer Pensionierung loyal. Das bescheidene Einkommen, die bescheidene Rente von CHF 150.— und das Wohnrecht im ehemaligen Postgebäude liessen kein aufwendiges Leben zu. Immerhin gönnte sie sich ab und zu eine Woche Kneipp-Kur im Kt. Thurgau.  Ein einziges Mal sprach sie beim Verwaltungsrat wegen einer kleinen Gehaltserhöhung vor. Diese wurde abgelehnt, was sie nie verstehen konnte.

Miggi freute sich über jeden Besuch ihrer Nichten und Neffen. Unvergessen bleiben mir Miggis Salatzutaten, zu denen Zucker gehörte. Sie selber genehmigte sich im Ausnahmefall ein Glas Rotwein, verdünnt mit Süssmost und selbstverständlich nachgezuckert! Unvergessen auch die Weihnachtsabende, zu denen z’Tanti in unsere Familie eingeladen wurde. Ihr Lieblingsgeschenk über viele Jahre war das «Kölnisch Wasser 4711», das  in der türkisfarbenen Verpackung.

Das Leben ohne eigene Familie hat Miggi nie zur Sprache gebracht. Das hiess nicht, dass sie nicht auch an der Erziehung der Neffen und Nichten teilhaben wollte. Gerne gab sie ihren Brüdern, Schwägerinnen und ihrer Stiefschwester Erziehungstipps für ihre Familien, entweder direkt vor Ort anlässlich der obligaten Sonntagsspaziergänge oder als gedachte Hilfe mit auf den Heimweg. Jedenfalls kamen diese pädagogischen Hinweise nicht bei allen Verwandten gleich gut an, zumal Miggi ihre Aufsichtspflicht auch nicht immer gleich gut wahrnahm. Fast traumatisch bleibt mir da ein Shoppingausflug mit dem Tanti in den Loeb nach Bern in Erinnerung, als sie mich aus den Augen verlor und sich der Kaufhauslautsprecher nach mir erkundigte…

Zu unserer Freude fand Tante Miggi nach ihrer Pensionierung schnell in ein Leben ohne Kassa und Berufsalltag. Sie unterstützte verschiedene karitative Anliegen, was sie nie gross erwähnte. Und sie fand in August und später in Emil zwei Freunde, mit denen sie viele frohe Momente - auch im Kreis der Neffen und Nichten und deren Familien - verbringen konnte.

Erinnern Sie sich noch an Marie Brügger? Wie haben Sie sie als Kassierin erlebt und als Privatmensch? Ich freue mich über weitere Hinweise.

Stephan Moser

Geld aus dem Dorf für das Dorf
Die Bauern und Handwerker eines Dorfes schliessen sich in einer Genossenschaft zusammen, um sich gegenseitig zu günstigen Darlehen für ihre Höfe und Betriebe zu verhelfen. Mit dieser genialen Idee reagierte der deutsche Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) in den 1860er-Jahren auf die Not der deutschen Landbevölkerung. Die Landwirtschaft steckte damals in der Krise, viele Höfe waren verschuldet, Kredite gab es – wenn überhaupt – nur zu Wucherzinsen. Mit seinen genossenschaftlichen Darlehenskassen wollte Raiffeisen der Landbevölkerung ermöglichen, sich selbst zu helfen. Selbsthilfe, Solidarität, Selbstverwaltung lauteten seine Grundsätze.

Bis Raiffeisens Idee von Darlehenskassen auch in den Schweizer Dörfern Fuss fasste, dauerte es fast 40 Jahre. 1899 gründete der Dorfpfarrer Johann Evangelist Traber im thurgauischen Bichelsee zusammen mit Männern aus dem katholischen Männerverein die erste Schweizer Raiffeisenkasse. Nun breiteten sich die Raiffeisenkassen vor allem in der katholischen Schweiz schnell aus. Die Darlehenskasse Wünnewil ist die dritte Raiffeisenkasse, die in Deutschfreiburg gegründet wurde, nach Alterswil (1904) und Heitenried (1905).

Die Dorfelite macht mit
Die erfolgreiche Gründung einer Raiffeisenkasse setzte das Engagement der Dorfbevölkerung voraus. In Wünnewil fiel die Idee auch bei der Gemeindebehörde auf fruchtbaren Boden. Zu den Gründern der Kasse gehörte etwa der Bauunternehmer, langjährige Gemeindepräsident und Grossrat Josef Perler (1861-1939), der auch zum ersten Präsidenten der Bank gewählt wurde. Erster Kassier wurde der Gemeindeschreiber Johann Josef Boschung. Auch die Geistlichkeit unterstützte das Vorhaben. Ab 1912 sass der Dorfpfarrer Josef Schmutz im Aufsichtsrat, nach dessen Tod 1932 der neue Pfarrer Alfons Riedo. Dass mit Dominik Brügger 1925 ein Lehrer Kassier wurde, war typisch für die Raiffeisenkassen. Lehrer, Gemeinderäte, Geistliche – diese Vertreter der dörflichen Eliten brachten nicht nur das Rüstzeug für das Bankgeschäft mit, sondern wussten aufgrund ihrer Stellung auch Bescheid über die Einkommensverhältnisse, die familiäre Situation und allfällige wirtschaftliche Schwierigkeiten von Schuldner. Die soziale Kontrolle war in diesen frühen Jahren und Jahrzehnten ein wichtiger Erfolgsgarant der Bank.

Motor der lokalen Wirtschaft
Für die Raiffeisenmitglieder bot die Bank die Chance, direkt im Dorf einen Kredit zu günstigen Konditionen zu bekommen. Ob Geld für eine neue Kuh, ein Fuhrwerk oder neue Werkzeuge – die Raiffeisenkasse Wünnewil wurde zu einem Motor der Wirtschaft und des Wohlstands im Dorf. Mit den Jahren wurde dabei neben den Betriebskrediten das Geschäft mit Hypotheken für öffentliche Gebäude und Privathäuser immer wichtiger. Der Start der Darlehenskasse verlief in Wünnewil offenbar harzig. Im Gründungsjahr 1905 hatte die Bank 53 Mitglieder, Spareinlagen von rund 22’000 Franken und eine Bilanzsumme von 72’000 Franken. Es dauerte 20 Jahre, bis sich die Zahl der Mitglieder auf knapp über 100 verdoppelt hatte. Als Marie Brügger 1950 zur Kassierin gewählt wird, sind es 234 Mitglieder, die Spareinlagen erreichen eine Höhe von 2,6 Millionen Franken, die Bilanzsumme 3,3 Millionen Franken. Bei Brüggers Pensionierung 1970 zählt die Kasse 386 Genossenschafter, verfügt über Spareinlagen von über 14 Millionen und eine Bilanzsumme von 18 Millionen.

Quellen und Literatur

  • Archiv der Raiffeisenbank Sensetal: Protokolle der Generalversammlungen, Vorstandsprotokolle, Fotos
  • Obrecht Sibylle, Raiffeisen: Menschen, Geld, Geschichten, Frauenfeld 2000.
  • Perler Dominik, Brügger Marie, Darlehenskasse Wünnewil. Jubiläumsbericht anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens 1905-1955, Wünnewil 1955.
  • Schneuwly Oswald u.a., 75 Jahre Raiffeisenkasse Wünnewil: 1905-1980, Freiburg 1980.
  • Schneuwly Oswald u.a., 100 Jahre Raiffeisenbank Wünnewil-Flamatt, Wünnewil-Flamatt 2005.
  • Gespräch mit Daniel Brügger, Neffe und Göttibub von Marie Brügger, Juni 2022.
  • Diverse Artikel aus den «Freiburger Nachrichten».
Erzählen Sie diese Geschichte weiter.

Empfohlene Artikel